P. Hersche: Kirchen als Gemeinschaftswerk

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Titel
Kirchen als Gemeinschaftswerk. Zu den wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen frühneuzeitlichen Sakralbaus


Autor(en)
Hersche, Peter
Erschienen
Basel 2021: Schwabe Verlag
Anzahl Seiten
274 S.
Preis
CHF 48.00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Francisca Loetz, Historisches Seminar, Universität Zürich

„Für die Sozialgeschichte der barocken Architektur, insbesondere der sakralen ist […] aus der bisherigen Fachliteratur nichts zu holen“ (S.19). Mit dieser Feststellung zieht Peter Hersche trotz pandemiebedingt geschlossener Bibliotheken und Archive aus, um das Barockzeitalter des katholischen Kirchenbaus in der Schweiz zu untersuchen. Die Epoche, die für die Schweiz vom ausgehenden 16. bis beginnenden 19. Jahrhundert anzusetzen sei, will Hersche, ein ausgewiesener Kenner des katholischen Barocks, aus sozial- und kunstgeschichtlicher Perspektive betrachten und einen „Beitrag zur nach wie vor vernachlässigten Geschichte der mittleren und unteren Schichten im Bereich der Religiosität“ leisten (S. 7).

Um die breite Thematik bewältigen zu können, richtet Hersche den Fokus auf Pfarrkirchen und behandelt Kapellen, Wallfahrts- und Klosterkirchen zweitrangig. Hierbei lenkt er den Blick immer wieder Richtung Italien, Österreich, Deutschland, Frankreich und den iberischen Ländern, um die schweizerischen Entwicklungen kontinentaleuropäisch zu kontextualisieren. Als hauptsächliche Quellengrundlage dienen die in den Kunstdenkmälern der Schweiz herausgegebenen Akten über alle möglichen Vorgänge, die mit dem Bau einer Kirche anfallen. Ergänzend zieht Hersche vor allem die Bände des Schweizerischen Kunstführers, die amtlichen gedruckten Inventare der Denkmäler und die von der Gesellschaft für Schweizerische Kunstgeschichte herausgegebenen Topographien zu Rate. Die Grenzen, die dieses Material aufweist, diskutiert Hersche in aller Klarheit. Die unteren und mittleren Schichten kommen in diesem Material kaum selbst direkt zu Wort.

Hersche erhebt die Dichte der Barockbauten und beschreibt, unter welchen theologischen, finanziellen, kirchen- und gemeindestrukturellen Rahmenbedingungen die Neubauten durchgeführt wurden. Mit aller Vorsicht vor Generalisierungen und der Einschätzung von Baukosten fasst Hersche seine Ergebnisse am Ende der jeweiligen Kapitel zusammen. Hierbei setzt er sich mit den Konzepten des Kommunalismus, der Sozialdisziplinierung, des von der Elite in das Volk sogenannten „gesunkenen Kulturguts“ (Hans Naumann) sowie marxistischen Interpretationen der Fronarbeit auseinander, die in den 1970er- bis 1990er-Jahren in der Frühneuzeitforschung für vielseitige Debatten gesorgt haben. Zu den wesentlichen Ergebnissen gehört, dass die Neubauten zu erheblichen Teilen von den Pfarrherren initiiert und finanziert worden seien. Im Mittelland hätten die reichen Klöster den Barockbau gefördert. Die Fronen hätten in einem „Reziprozitätsverhältnis“ zwischen zu erbringender Leistung und Gegenleistung der Bauherrschaft gestanden und seien „keineswegs mit von oben verordneter dumpfer Sträflingsarbeit zu vergleichen“ (S. 203). Die demographischen Entwicklungen hätten lokal eine unterschiedlich zu gewichtende Rolle für den Neubau von Pfarrkirchen gespielt. Während die Reformierten ihre finanziellen Ressourcen in ökonomische Unternehmungen erfolgreich investiert hätten, sei in den katholischen Orten viel Kapital in die Neubauten geflossen und unproduktiv gebunden gewesen, was die ökonomische Entwicklung der entsprechenden Regionen gehemmt habe. Die aufklärerische Kritik am Barock, die in den europäischen Nachbarländern zum Ende des barocken Baus geführt habe, sei von der in ihrer Volksreligiosität tief verwurzelten katholischen Schweiz nicht aufgenommen worden. Vielmehr sei bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts hinein ein spätbarocker Bauboom zu verzeichnen. Mit Sicherheit könne gesagt werden, dass die verschiedenen intensiven Bauphasen „ohne den unbändigen Willen zum Bauen auch von ‚unten‘“ nicht stattgefunden hätten. Selbst die Initiativen zum Kirchenbau von ‚oben‘ seien wohl auf einen gewissen Druck von ‚unten‘ zurückzuführen. Die in der Kultur der Eliten wie auch der Bauernschaft verankerten Bauprojekte hätten ein ungeschriebenes Reziprozitätsgesetz zur Grundlage gehabt, das „gegenseitige Ansprüche und Leistungen sorgfältig austarierte“ (S. 239).

Wenn auch die konzeptionellen Debatten, die Hersche in seiner Argumentation anschneidet, überholt wirken, gelingt es ihm mit seiner Monografie, erhellendes Licht auf ein unterbelichtetes Phänomen der katholischen Schweiz zu werfen. Dass er den Blickwinkel von ‚unten‘ eher postulieren muss als belegen kann, ist dem Quellenmaterial geschuldet. Der Gewinn der um einige Abbildungen bereicherten Darstellung liegt darin, eine Thematik in aller empirischen Akribie und Differenziertheit erarbeitet zu haben, zu der bislang eine befriedigende historische Monografie fehlte. Ein Orts-, Personen- und/oder Sachregister wäre willkommen gewesen, um den vielen, in klarer, einfacher Sprache beschriebenen sakralen Barockbauten systematisch nachgehen zu können.

Redaktion
Veröffentlicht am
12.09.2022
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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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